Am Ende ging es um Leben und Tod, um Sein oder Nichtsein und die Frage, was und wie relevant die eigene Existenz und die der gesamten Menschheit überhaupt ist. Die Kinnlade fiel runter und blieb dort, den ganzen Abspann lang. Was für ein großartiges und intelligentes Spiel SOMA doch ist! Von vorne bis hinten, in jeder Minute. Was Life is Strange damit zu tun hat? Ganz wenig und ganz viel zugleich. Im gar nicht mal so entfernten Sinne behandeln beide zwar ähnliche, existenzielle Themen – dies aber auf sehr unterschiedliche Art und Weise. SOMA wählt ein ungewöhnliches Zukunftssetting, während Life is Strange in der (vermeintlichen) Realität von heute angesiedelt wurde. Außerdem bringen die einen ihr Werk atemberaubend gut zu Ende, während die anderen es auf links drehen. Geht es bei SOMA um die letzten digitalisierten Kopien der allerletzten Menschen (jaja, DAS nenne ich Kreativität!), wandelt Max Caulfield in Life is Strange durch Zeit, Raum und alternative Realitäten. Wo SOMA sich alle Story-Freiheiten nimmt und großartig damit jongliert, musste Life is Strange wohl leider in seiner letzten Episode namens Polarized zu irgendeinem handfesten Finale kommen. Was dem Spiel nicht gut bekommen ist. So vieles in Life is Strange ist relativ, aber das Ende musste absolut ausfallen (wenn auch á la carte).

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So einige Handlungsfäden mussten zusammengefügt werden, wobei mich das Gefühl nicht loslässt, dass die letzte Stunde in Polarized nicht so zielgerichtet verlaufen wäre, wenn schon während der Entwicklung der ersten Staffel eine zweite bereits beschlossen worden wäre. So war es aber nicht und das merkt man Polarized eben an - es sollte ein Finale liefern, dass auch endgültig für sich steht. Prinzipiell ist das ein guter Gedanke, mir hätte eine zusätzliche finale Episode wohl besser gefallen.

Also, da ist die Crime-Story um Mark Jefferson, den durchgeknallten Hipster-Lehrer, der im Keller krasse Fotos seiner Opfer schießt, bevor er sie um die Ecke bringt bzw. irgendwo verscharrt. Nur Nathan Prescott nicht, von dem schoss er wohl kein Foto. An dieser Stelle erinnere ich kurz daran, dass neben der Chloe-Szene im Schul-WC aus der ersten Episode das nun aufgeklärte Verschwinden von Rachel Amber das Band ist, dass Life is Strange ursprünglich zusammenhielt. Relevant für die Zeitlinie bleiben Jefferson´s Übeltaten, werden in Polarized aber sehr auf die Chloe-Konsequenzen heruntergezählt. Rachel Amber interessiert eigentlich gar nicht mehr. Im Sog dieser Crime-Story geht es also natürlich (mal wieder) vor allem um Leben und Tod der dauerrenitenten Teenie-Göre namens Chloe – wobei niemand ernsthaft daran zweifeln dürfte, dass Max nicht noch einmal ordentlich an der Uhr dreht.

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A propos Chloe: Ihre Familiengeschichte um den viel zu frühen Tod ihres Vaters und das schwierige Verhältnis zum Pseudo-erst-doch-dann-aber-nicht-mehr-Bösewicht-Schwiegervater David Madsen schwang natürlich auch immer noch mit. Wobei wir mittlerweile wissen, dass der Tod in der Familie nicht zu verhindern ist. Chloe oder ihr Vater, so schaut es aus. Mögliche Konsequenzen des „erneuten“ Todes von Chloe, zum Beispiel auf Chloe´s Mutter, blendet diese letzte Episode leider aus. Was ich schade finde, denn die Mutter kam ganz authentisch rüber. Im Gegensatz zu ihrer Tochter, über die ich mich zuletzt drüben bei polyneux mokierte. Jedenfalls dient diese letzte Episode auch der ausdrücklichen Rehabilitierung und einer kleinen Heroisierung on David Madsen - wobei wir selber entscheiden dürfen, wie brutal er dabei vorgeht.

Ach ja, und die zarte Love-Story – um die kleinen Mini-Knutscherei mal forsch zu formulieren – zwischen Max und Warren bekam ebenso sein kurzes, leicht dahingerotztes Happy End, wobei „End“ hier unter Umständen sehr, sehr vorläufig zu verstehen ist (genau, ich spiele auf die allerletzte Entscheidung von Max an). Das gefällt mir überhaupt nicht, aber dazu später mehr im Text. Ebenso wird die intrigante Victoria leider vernachlässigt, die zwar auch noch ihre lichten Momente der Selbsterkenntnis erhält, aber ansonsten zum Abschluss des Spiels kaum etwas zu melden hat. Schade, denn das Victoria-Biest war so ungefähr die einzige der Teenies, bei der mich in keiner einzigen Episode die Fremdscham überkam.

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Man ahnt es: Polarized handelt sehr exklusiv von Max und Chloe. Und dem Sturm, aber auch bei dem scheint es um Max und Chloe zu gehen. Wie sich Polarized zu ihrem diskutablen Ende hin zuspitzt, ist aller Ehren wert und das meine kleine Kritik so tendenziell negativ klingt, hat nur mit den letzten beiden Minuten zu tun, aber sicherlich nicht mit den 90 Minuten davor. Max kämpft mit und sich durch verschiedenste Realitäten, wobei sich das Zurückspulen der Zeit immer kniffliger gestaltet und sie zunehmend am Ende ihrer Kräfte angelangt ist. Selbstverständlich ist es nicht förderlich ist, das „Experiment Zeitreise“ gefesselt auf einem Stuhl in einem Keller mit einem mordlüsternen Lehrer durchzuführen - aber so wollten es die Autoren nun mal und spannend ist es durchaus.

Brillant wechselt Life is Strange dabei zwischen konkreten Taten, die Max leisten muss, um wieder ihrer gewünschten Zeit und Realität ein Stück näher zu kommen und beeindruckenden Momenten der Reflexion, wenn von Kate Marsh bis zu Max das Handeln und das Selbstverständnis von Max Caulfield in Frage gestellt wird. Das ist zuweilen ganz großes Videospiel-Kino. Über das man jedoch nicht zu genau nachdenken sollte. Irgendwann konnte ich  nicht anders und daran ist selbstverständlich das vermurkste Finale Schuld.

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Dass beinahe ein ganzes Spiel an der Beantwortung der Frage „Chloe oder die Welt!“ hängt, geht mir massiv auf den Zeiger. Natürlich bekommt die allerletzte Entscheidung durch die komplette Story eine gewisse Schwere, aber hey, soweit sollte es nicht gehen, dass sämtliche Entscheidungen eines annähernd vollendeten Spiels plötzlich schnurz sein können. Was wird aus Warren, aus Max´ Familie? Aus Chloe´s Mutter und dem rehabilitierten Stiefvater undsoweiterundsofort…wenn die bestimmte Entscheidung getroffen wurde, die ich (leider) wählte (Chloe)? Nix wird aus denen, ist auch egal, lehrt uns das Spiel.

Davon mal abgesehen, dass solch ein Ende sehr hartherzig ist/wäre, macht es vor allem keinen Sinn. Denn die Geschichte von Chloe´s Vater lehrt uns ja, dass Max´ Zeitspielereien und Manipulationen durch das ominöse „Schicksal“ Grenzen gesetzt sind. Mal kurz ein Städtchen auszulöschen, kann da eigentlich nicht der Weg zur Sis-Glückseligkeit mit Chloe sein. Folgt das Spiel seinen Gesetzen, müsste Max´ Wahl noch späte Konsequenzen haben, zusätzlich zu dem von ihr angerichteten Armageddon. Denn auch die vergebliche „Rettung“ von Chloe´s Vater endete viele Jahre später mit einer anderen Katastrophe, wie wir wissen. Vielleicht geht es darum in der zweiten Staffel von Life is Strange, aber durch das abschließende, psychopathische Handeln von Max will ich sie eigentlich gar nicht mehr dabei haben. Eine neue Geschichte, damit könnte ich mich noch anfreunden, denn wer zu 90 Prozent ein ganz großartiges Spiel hinlegt, sollte mit ein wenig mehr Erfahrung noch ein paar Storyprozentpunkte drauflegen können.

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Doch auch ohne das verkorkste Finale bleibt mir Life is Strange als ein besonderes Videospiel in Erinnerung. Als Adventure funktioniert es mal besser und mal nicht so gut, was noch extremer für die Dialoge gilt. Dass Dontnod in Polarized noch spacige Stealth-Elemente einbaut, hätte ich nun weiß Gott nicht erwartet und auch wenn sich so manche(r) daran störte – ich fand diese Sequenzen ganz hervorragend. Das hatte was von einem durchschüttelnden Mindfuck und dass ich darauf stehe, verrät nicht zuletzt die kleine SOMA-Eloge im Einstieg. Abschließend möchte ich noch die vielen schönen und intensiven Bilder bejubeln, die Life is Strange in jeder Episode zuhauf kreierte (deswegen gibt es unten noch eine kleine Galerie mit Screenshots aus Polarized). In schwierigen emotionalen Situationen mit der Kamera draufzugehen ist anspruchsvoller als in den Momenten, wenn Blut fließt, nicht wahr, Telltale?

Hier noch eine kleine Übersicht der Kritiken zu den ersten vier Episoden: Chrysalis, Out of Time, Chaos Theory und Dark Room.